Freitag, 30. August 2013

Creepypast 02: Das letzte Kapitel

Das letzte Kapitel

Ich sitze oft sehr lange an meinem Computer, auch nachts. Schreibe. Ich bin Autor und tauche oft stundenlang in die Welt meiner Charaktere, fühle, lache und weine mit ihnen, fast so, als wären sie real.
Doch das sind sie nicht … oder?
Vor einigen Wochen hatte ich eine Begegnung, die meine Meinung schlagartig ändern sollte.
Wie immer saß ich nachts noch an meinem Computer und schrieb. Meine Finger tanzten über die Tastatur meines Laptops, spielten mit den Buchstaben und fügten sie langsam, aber sich zu einer Geschichte zusammen.
Ich war bereits in einem der letzten Kapitel, da ich letzter Zeit eine ziemlich produktive Phase gehabt hatte.
Mein Blick fiel auf die kleine digitale Uhr am unteren Rand meines Bildschirms: 01: 05.
Ich hatte also bereits in den nächsten Tag hineingeschrieben.
Gut, dass ich morgen nicht so früh raus muss, dachte ich so bei mir selbst.
Doch meine Augen wollten jedes Mal, wenn ich einen Satz beendet hatte zufallen und mich in das süße Reich des Schlafes überführen. Wäre ich dem Aufruf meines Körpers doch nur gefolgt … Doch ich zwang mich weiterzuschreiben.
Wisst ihr, ich fiebere immer mit, egal, ob ich ein Buch schreibe oder lese. Denn selbst, wenn ich schon genau im Kopf habe, was als nächstes passiert, interessiert es mich, was als nächstes passiert.
Irgendwie gerate ich immer in die Welt hinein, die ich erfinde, werde ein Teil von ihr, ob ich es möchte, oder nicht. Ich gehöre zum Freundeskreis des Protagonisten, sowie er zu meinem gehört.
Somit war es auch nicht verwunderlich, dass ich mich gerade direkt neben ihm befand – mehr oder weniger – direkt im Versteck des Antagonisten.
Falls ihr es nicht wisst: Ich schreibe bevorzugt Horrorbücher oder Dystopien. Die Vorstellung einer bösen und sich selbst zerstörenden Welt fasziniert mich. Die Dunkelheit und all ihre Kreaturen zieht mich an, wie ein Magnet. Und selbst hatte ich nichts gegen einen guten, blutigen Schreck einzuwenden. Sollte ich mir Sorgen um mich selbst machen? Ich weiß es nicht.
Aus den Lautsprechern meines Computers tönte Musik, ich konnte nicht ohne schreiben. Ich warf einen Blick auf iTunes: Voltaire – When you're evil, flackerte in verschwommenen Buchstaben über den Bildschirm. Ich mochte das Lied. Es passte gut, zu dem Bösewicht meiner aktuellen Serie.
Lächelnd nahm ich einen Schluck aus der Kaffeetasse, die neben mir auf dem Schreibtisch stand. Der Kaffee war kalt, eiskalt, um genau zu sein, doch das störte mich nicht. Das Koffein darin erfüllte seinen Zweck. Es hielt mich wach.
Doch anscheinend hatte ich bereits zu viel davon zu mir genommen in dieser Nacht. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie etwas hinter mir entlang huschte. Ich schreckte auf und drehte mich um, doch da war nichts. Keine Person, kein Tier, kein Schatten.
Erschöpft ließ ich den Kopf auf meine Hände fallen und fuhr mit den Handballen unter meinen Augen entlang.
„Geh schlafen …“, murmelte ich zu mir selbst, als wäre ich in Trance.
Doch ich wollte nicht, konnte nicht, ich musste weiterschreiben.
Mein Rücken tat weh und meine Glieder schmerzten. Schnell nahm ich noch einen großen Schluck vom kalten Kaffee, um nicht über der Tastatur ein zu nicken.
„Bist du müde?“, flüsterte eine tiefe Stimme hinter mir. Sie war so weich, wie Samt und gleichzeitig so rau, wie Schmirgelpapier.
Erschrocken wirbelte ich herum und betätigte den Lichtschalter meiner Schreibtischlampe. Mein Herz pochte wie wild, so als wolle es einen Wettbewerb gewinnen, und sprang mir bei all seinen Bemühungen fast aus der Brust.
„Wer ist da?!“, stammelte ich und versuchte dabei eine feste, sichere Stimme zu wahren. Doch niemand antwortete. Ich war allein in meinem Zimmer, ganz allein. Vielleicht halluzinierte ich, das sollte unter Schlafmangel und Koffeineinfluss schon vorkommen. Vielleicht hatte ich einfach nur mit mir selbst gesprochen? Doch nein, irgendetwas war da … Oder irgendwer?
Ich redete mir diese paranoiden Gedanken ganz schnell wieder aus. Ich hatte sämtliche Türen und Fenster geschlossen und die Alarmanlage aktiviert. Niemand hätte unbemerkt auch nur in die Nähe des Hauses kommen können. Niemand.
Mein Herzschlag beruhigte sich wieder und ich widmete mich meiner Arbeit.
Nach einigen Minuten blickte ich wieder auf und schaute aus dem Fenster vor mir. Statt meinem kleinen Vorgarten sah ich nur mein müdes, abgemagertes Selbst, das mich aus leeren, trüben Augen anstarrte. Plötzlich riss es die Augen auf und … verschwand. Seltsam dachte ich mir, doch, als ich wieder aufblickte, starrte es wieder zurück. Wieder eine Halluzination? Nichts mehr, als eine Illusion?
Ich klickte auf etwas fröhlichere Musik, um mich abzulenken.
Vielleicht sollte ich einfach aufstehen und das große Licht einschalten? Vielleicht würde es die Schreckgespenster verscheuchen? Oder vielleicht sollte ich auch einfach ins Bett gehen?
Es erschien mir das Vernünftigste. Die Deadline war erst in ein paar Tagen, bis dahin hätte das letzte Kapitel bestimmt beendet.
Aber vorher musste ich noch einmal aufs Klo. Der viele Kaffee drückte ganz schon auf meine Blase und drängte nach draußen.
Also schaltete ich meinen Computer aus und erhob mich. Alle meine Gelenke knackten und ich dehnte meinen schmerzenden Rücken, bevor ich den langen Flur zur Toilette hinab trottete.
Wieder hörte ich Geräusche, ein Kratzen und ein Keuchen, so, als würde jemand hinter der nächsten Tür liegen, dem Tode nahe.
Ich schüttelte mich, als es mir eiskalt den Rücken hinunter lief.
Ich setzte mich aufs kalte Porzellan und als ich fertig war stand ich auf und wusch mir die Hände, so, wie ich es immer tat. Doch trotzdem war irgendetwas anders. Doch ich wusste nicht was. Genau diese Unwissenheit jagte mir unglaubliche Angst ein.
Mein Atem beschleunigte sich, als ich den Flur zurück zu meinem Schlafzimmer lief. Die letzten Meter rannte ich sogar. Ich konnte es nicht erwarten endlich in meinem warmen, weichen und vor allem sicheren Bett zu liegen und die Augen zu schließen.
Doch dann hörte ich es. Das Klappern von Fingern, die über eine Computertastatur flogen. Ich erstarrte.
„Was war das?“, hauchte ich leise zu mir selbst.
Als ich näher kam sah ich sofort den hellen Schein meines Computerbildschirms durch den Spalt in der Tür hindurch scheinen.
Ich hatte ihn doch ausgemacht!
Zitternd legte sich meine Hand auf den Türknauf und ich betrat den Raum mit wackligen Knien.
Dort saß er. Im blauen Schein des Bildschirms saß er an meinem Schreibtisch und tippte an meinem letzten Kapitel.
Aus den Lautsprechern des Laptops ertönte Voltaires tief Stimme: It gets so lonely when you're evil …
Als ich in das Fenster vor ihm blickte sah ich sein Spiegelbild und unterdrückte einen Schrei.
Ich kannte diese Person! Ich kannte die ausdruckslose, weiße Maske, die ein entstelltes, nur noch von Muskelfasern bezogenes Gesicht verbarg. Ich kannte den schlanken, feinen Körper, der in dem maßgeschneiderten Anzug auf dem Stuhl saß. Ich kannte den Mann, denn ich hatte ihn selbst erschaffen! Vor mir saß mein eigens kreierter Bösewicht und schrieb an meinem Manuskript.
Ich begann zu zittern und zu ächzen.
Sollte es nicht der schönste Moment eines Autors sein, wenn er seinen Charakteren wirklich begegnet? War dies nicht der Wunsch eines jeden Schreibers?
Nein! Nicht bei diesem ihr. Ich erinnerte mich an seine Vorgeschichte, an alle Eigenschaften, die ich ihm gegeben hatte, an alles, das ich ihm angetan hatte.
„Was willst du von mir?“ Meine Stimme zitterte, wie tausend Espen im Wind.
Er legte nur den Kopf zur Seite und lächelte mich durch seine Maske hinweg an. Das weiße falsche Gesicht spiegelte sich gespenstisch im Fenster.
Plötzlich war er von seinem Platz verschwunden und hauchte mir ins Ohr. Ich wollte mich umdrehen und ihm in die dunklen Augen blicken, doch ich konnte nicht. Ich stand einfach nur da, angewurzelt.
Der Mann fuhr mir mit seinen eiskalten Fingern die Wirbelsäule entlang und küsste mich auf die blassen Lippen, bevor er sich in Luft auflöste. Ich kann seine Lippen auf meiner immer noch schmecken.
Wenige Sekunden später fiel ich in mich zusammen. Meine Beine gaben unter meinem Gewicht nach und ließen sich nicht mehr bewegen. Ich konnte nicht mehr aufstehen und dort, wo er mich berührt hatte setzte ein stechender Schmerz ein, der in meinen ganzen Körper ausstrahlte, bis auf die Beine. Diese konnte ich nicht mehr spüren.
Nein!“, flüsterte ich in die Nacht hinein.
Bevor meine Augen zufielen und mich die Müdigkeit und die Verzweiflung übermannte konnte ich einen letzten Blick auf den Bildschirm erhaschen. Dort stand in strahlenden, blutroten Lettern:

Wann schreibst du dein letztes Kapitel?

Seit diesem Vorfall sitze ich im Rollstuhl. Doch was noch viel schlimmer ist, als die Lähmung ist die ewige Angst, die Angst vor dem Ende, denn ich habe das Kapitel nie zu ende geschrieben.

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