Das
letzte Kapitel
Ich sitze oft sehr lange an meinem
Computer, auch nachts. Schreibe. Ich bin Autor und tauche oft
stundenlang in die Welt meiner Charaktere, fühle, lache und weine
mit ihnen, fast so, als wären sie real.
Doch das sind sie nicht … oder?
Vor einigen Wochen hatte ich eine
Begegnung, die meine Meinung schlagartig ändern sollte.
Wie immer saß ich nachts noch an
meinem Computer und schrieb. Meine Finger tanzten über die Tastatur
meines Laptops, spielten mit den Buchstaben und fügten sie langsam,
aber sich zu einer Geschichte zusammen.
Ich war bereits in einem der letzten
Kapitel, da ich letzter Zeit eine ziemlich produktive Phase gehabt
hatte.
Mein Blick fiel auf die kleine digitale
Uhr am unteren Rand meines Bildschirms: 01: 05.
Ich hatte also
bereits in den nächsten Tag hineingeschrieben.
Gut, dass ich morgen nicht so früh
raus muss, dachte ich so bei mir
selbst.
Doch meine Augen
wollten jedes Mal, wenn ich einen Satz beendet hatte zufallen und
mich in das süße Reich des Schlafes überführen. Wäre ich dem
Aufruf meines Körpers doch nur gefolgt … Doch ich zwang mich
weiterzuschreiben.
Wisst ihr, ich
fiebere immer mit, egal, ob ich ein Buch schreibe oder lese. Denn
selbst, wenn ich schon genau im Kopf habe, was als nächstes
passiert, interessiert es mich, was als nächstes passiert.
Irgendwie gerate
ich immer in die Welt hinein, die ich erfinde, werde ein Teil von
ihr, ob ich es möchte, oder nicht. Ich gehöre zum Freundeskreis des
Protagonisten, sowie er zu meinem gehört.
Somit war es auch
nicht verwunderlich, dass ich mich gerade direkt neben ihm befand –
mehr oder weniger – direkt im Versteck des Antagonisten.
Falls ihr es nicht
wisst: Ich schreibe bevorzugt Horrorbücher oder Dystopien. Die
Vorstellung einer bösen und sich selbst zerstörenden Welt
fasziniert mich. Die Dunkelheit und all ihre Kreaturen zieht mich an,
wie ein Magnet. Und selbst hatte ich nichts gegen einen guten,
blutigen Schreck einzuwenden. Sollte ich mir Sorgen um mich selbst
machen? Ich weiß es nicht.
Aus
den Lautsprechern meines Computers tönte Musik, ich konnte nicht
ohne schreiben. Ich warf einen Blick auf iTunes: Voltaire –
When you're evil, flackerte in
verschwommenen Buchstaben über den Bildschirm. Ich mochte das Lied.
Es passte gut, zu dem Bösewicht meiner aktuellen Serie.
Lächelnd nahm ich
einen Schluck aus der Kaffeetasse, die neben mir auf dem Schreibtisch
stand. Der Kaffee war kalt, eiskalt, um genau zu sein, doch das
störte mich nicht. Das Koffein darin erfüllte seinen Zweck. Es
hielt mich wach.
Doch anscheinend
hatte ich bereits zu viel davon zu mir genommen in dieser Nacht. Aus
dem Augenwinkel beobachtete ich, wie etwas hinter mir entlang
huschte. Ich schreckte auf und drehte mich um, doch da war nichts.
Keine Person, kein Tier, kein Schatten.
Erschöpft ließ
ich den Kopf auf meine Hände fallen und fuhr mit den Handballen
unter meinen Augen entlang.
„Geh schlafen …“,
murmelte ich zu mir selbst, als wäre ich in Trance.
Doch ich wollte
nicht, konnte nicht, ich musste weiterschreiben.
Mein Rücken tat
weh und meine Glieder schmerzten. Schnell nahm ich noch einen großen
Schluck vom kalten Kaffee, um nicht über der Tastatur ein zu nicken.
„Bist du müde?“,
flüsterte eine tiefe Stimme hinter mir. Sie war so weich, wie Samt
und gleichzeitig so rau, wie Schmirgelpapier.
Erschrocken
wirbelte ich herum und betätigte den Lichtschalter meiner
Schreibtischlampe. Mein Herz pochte wie wild, so als wolle es einen
Wettbewerb gewinnen, und sprang mir bei all seinen Bemühungen fast
aus der Brust.
„Wer ist da?!“,
stammelte ich und versuchte dabei eine feste, sichere Stimme zu
wahren. Doch niemand antwortete. Ich war allein in meinem Zimmer,
ganz allein. Vielleicht halluzinierte ich, das sollte unter
Schlafmangel und Koffeineinfluss schon vorkommen. Vielleicht hatte
ich einfach nur mit mir selbst gesprochen? Doch nein, irgendetwas war
da … Oder irgendwer?
Ich redete mir
diese paranoiden Gedanken ganz schnell wieder aus. Ich hatte
sämtliche Türen und Fenster geschlossen und die Alarmanlage
aktiviert. Niemand hätte unbemerkt auch nur in die Nähe des Hauses
kommen können. Niemand.
Mein Herzschlag
beruhigte sich wieder und ich widmete mich meiner Arbeit.
Nach einigen
Minuten blickte ich wieder auf und schaute aus dem Fenster vor mir.
Statt meinem kleinen Vorgarten sah ich nur mein müdes, abgemagertes
Selbst, das mich aus leeren, trüben Augen anstarrte. Plötzlich riss
es die Augen auf und … verschwand. Seltsam dachte ich mir, doch,
als ich wieder aufblickte, starrte es wieder zurück. Wieder eine
Halluzination? Nichts mehr, als eine Illusion?
Ich klickte auf
etwas fröhlichere Musik, um mich abzulenken.
Vielleicht sollte
ich einfach aufstehen und das große Licht einschalten? Vielleicht
würde es die Schreckgespenster verscheuchen? Oder vielleicht sollte
ich auch einfach ins Bett gehen?
Es erschien mir das
Vernünftigste. Die Deadline war erst in ein paar Tagen, bis dahin
hätte das letzte Kapitel bestimmt beendet.
Aber vorher musste
ich noch einmal aufs Klo. Der viele Kaffee drückte ganz schon auf
meine Blase und drängte nach draußen.
Also schaltete ich
meinen Computer aus und erhob mich. Alle meine Gelenke knackten und
ich dehnte meinen schmerzenden Rücken, bevor ich den langen Flur zur
Toilette hinab trottete.
Wieder hörte ich
Geräusche, ein Kratzen und ein Keuchen, so, als würde jemand hinter
der nächsten Tür liegen, dem Tode nahe.
Ich schüttelte
mich, als es mir eiskalt den Rücken hinunter lief.
Ich setzte mich
aufs kalte Porzellan und als ich fertig war stand ich auf und wusch
mir die Hände, so, wie ich es immer tat. Doch trotzdem war
irgendetwas anders. Doch ich wusste nicht was. Genau diese
Unwissenheit jagte mir unglaubliche Angst ein.
Mein Atem
beschleunigte sich, als ich den Flur zurück zu meinem Schlafzimmer
lief. Die letzten Meter rannte ich sogar. Ich konnte es nicht
erwarten endlich in meinem warmen, weichen und vor allem sicheren
Bett zu liegen und die Augen zu schließen.
Doch dann hörte
ich es. Das Klappern von Fingern, die über eine Computertastatur
flogen. Ich erstarrte.
„Was war das?“,
hauchte ich leise zu mir selbst.
Als ich näher kam
sah ich sofort den hellen Schein meines Computerbildschirms durch den
Spalt in der Tür hindurch scheinen.
Ich hatte ihn doch ausgemacht!
Zitternd legte sich
meine Hand auf den Türknauf und ich betrat den Raum mit wackligen
Knien.
Dort saß er. Im
blauen Schein des Bildschirms saß er an meinem Schreibtisch und
tippte an meinem letzten Kapitel.
Aus den
Lautsprechern des Laptops ertönte Voltaires tief Stimme: It gets
so lonely when you're evil …
Als ich in das
Fenster vor ihm blickte sah ich sein Spiegelbild und unterdrückte
einen Schrei.
Ich kannte diese
Person! Ich kannte die ausdruckslose, weiße Maske, die ein
entstelltes, nur noch von Muskelfasern bezogenes Gesicht verbarg. Ich
kannte den schlanken, feinen Körper, der in dem maßgeschneiderten
Anzug auf dem Stuhl saß. Ich kannte den Mann, denn ich hatte ihn
selbst erschaffen! Vor mir saß mein eigens kreierter Bösewicht und
schrieb an meinem Manuskript.
Ich begann zu
zittern und zu ächzen.
Sollte es nicht der
schönste Moment eines Autors sein, wenn er seinen Charakteren
wirklich begegnet? War dies nicht der Wunsch eines jeden Schreibers?
Nein!
Nicht bei diesem ihr. Ich erinnerte mich an seine Vorgeschichte, an
alle Eigenschaften, die ich ihm gegeben hatte, an alles, das ich ihm
angetan hatte.
„Was willst du
von mir?“ Meine Stimme zitterte, wie tausend Espen im Wind.
Er legte nur den
Kopf zur Seite und lächelte mich durch seine Maske hinweg an. Das
weiße falsche Gesicht spiegelte sich gespenstisch im Fenster.
Plötzlich war er
von seinem Platz verschwunden und hauchte mir ins Ohr. Ich wollte
mich umdrehen und ihm in die dunklen Augen blicken, doch ich konnte
nicht. Ich stand einfach nur da, angewurzelt.
Der Mann fuhr mir
mit seinen eiskalten Fingern die Wirbelsäule entlang und küsste
mich auf die blassen Lippen, bevor er sich in Luft auflöste. Ich
kann seine Lippen auf meiner immer noch schmecken.
Wenige Sekunden
später fiel ich in mich zusammen. Meine Beine gaben unter meinem
Gewicht nach und ließen sich nicht mehr bewegen. Ich konnte nicht
mehr aufstehen und dort, wo er mich berührt hatte setzte ein
stechender Schmerz ein, der in meinen ganzen Körper ausstrahlte, bis
auf die Beine. Diese konnte ich nicht mehr spüren.
„Nein!“,
flüsterte ich in die Nacht hinein.
Bevor meine Augen
zufielen und mich die Müdigkeit und die Verzweiflung übermannte
konnte ich einen letzten Blick auf den Bildschirm erhaschen. Dort
stand in strahlenden, blutroten Lettern:
Wann
schreibst du dein
letztes Kapitel?
Seit
diesem Vorfall sitze ich im Rollstuhl. Doch was noch viel schlimmer
ist, als die Lähmung ist die ewige Angst, die Angst vor dem Ende,
denn ich habe das Kapitel nie zu ende geschrieben.
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